Ein Koan aus dem Mumonkan lautet:
Jôshû fragte einmal seinen Lehrer Nansen in allem Ernst: „Was ist der Weg?“
Nansen antwortete:„Der alltägliche Geist ist der Weg.“ Jôshû fragte daraufhin: „Soll ich mich selbst darauf ausrichten oder nicht?“ Nansen meinte: „Wenn du versuchst dich ihm zuzuwenden, wendest du dich von ihm ab.“ Daraufhin fragte Jôshû: “Wenn ich versuche mich ihm zuzuwenden, wie kann ich wissen, dass es der Weg ist?“ Nansen antwortete: „Der Weg hat nichts zu tun mit Wissen oder nicht Wissen. Wissen ist Illusion. Nicht-Wissen ist ohne Bewusstsein.
Mumonkan Nr.19
Jôshû war einer der berühmtesten Zen-Meister im alten China. In diesem Koan ist Jôshû jedoch noch jung und unerfahren und so fragt er Nansen:
„Was ist der Weg?“
Das Wort Weg ist eine Behelfsübersetzung des chinesischen Tao oder japanischen Do, denn das deutsche Wort Weg schließt einen Anfang und ein Ende ein. Er wird als Strecke verstanden, die in einem Ziel mündet und das ich schnell erreichen will. Doch das ist hier nicht gemeint. Do oder Tao sind keine Strecke. Sie sind das Hier und Jetzt, dieser eine Schritt, den ich gerade gehe. Es geht daher nicht darum, wann komme ich an, wann habe ich den Weg hinter mich gebracht, wann mein Ziel erreicht. Der Schritt selbst ist das Ziel. Dieser Kieselstein mein ganzes Dasein. Meister Tozan sagte einmal: „der Weg liegt unter deinen Füssen, nicht vor dir, nicht hinter dir, nicht neben dir. Du kannst ihn immer nur in diesem Augenblick erleben.“ Und auch Nansen verweist Jôshû darauf, dass er den Weg nicht wissen kann.
Gehen wir einen „spirituellen“ Weg, schwingt manchmal die Vorstellung mit, dieser Weg sei ein besonderer Weg, der zu meinem „normalen“ Leben hinzukommt. Doch Nansen wehrt dem und sagt, der ganz normale Alltag ist der Weg. Warum sollen wir dann einen Weg gehen und nicht einfach unser Leben so dahin leben? Leben wir „normal“ , sind wir unbewusst, wir denken, fühlen und handeln konditioniert, ohne dass wir es merken, wir sind der Meinung, wir wären frei und könnten uns ungebunden für dies oder jenes entscheiden. Das ist jedoch die große Illusion.
Einen spirituellen Weg inmitten des Alltags gehen heißt: sich dessen bewusst zu sein, was JETZT gerade ist.
Nansen erzählte dazu eine wunderbare Geschichte: Ein Mönch war auf dem Weg zu seinem Kloster. Der Mönch erhoffte sich, bei dem großen berühmten Nansen die Erleuchtung zu erlangen. Das Kloster lag in den Bergen versteckt, so dass der Mönch, obwohl er nicht weit vom Kloster entfernt war, es nicht sah. Da erblickte er auf dem Feld Mönche, die gerade Getreide schnitten.
So fragte er einen Mönch, der ihm am nächsten war? „Kannst du mir sagen, wo ich den berühmten Meister Nansen finden kann?“
Zufällig war der Mönch Nansen selbst. Durch seine Arbeitskleidung unterschied er sich von den anderen Mönchen nicht. Nansen schaute den Mönch an, hob dann seine Sichel hoch und sagte: „Die Sichel ist scharf, sie schneidet wunderbar das reife Getreide.“
Die Antwort die Nansen dem Mönch gibt, ist brillant. Die scharfe Sichel ist das wunderbare Bild für den Augenblick. Sie ist so scharf, sie schneidet alle alten Gedanken ab, sie lässt keine Vergangenheit und keine Zukunft zu. Nansen hätte auch sagen können: „Suche dein Heil nicht bei irgendeinem fremden Meister. Der wahre Meister ist dieser Augenblick. Jeder Moment deines Lebens ist die Erfüllung deines Weges. Ich kenne den Weg nicht. Er kommt mir in jedem Augenblick neu zu. Jeder Schritt, jeder Laut, jedes Staubkorn, JEDER KIESELSTEIN alles ist unser Meister, der uns unser Selbst leben lässt, wenn wir nicht in der Illusion gefangen sind, es gäbe ein anderes Ziel als dieses Jetzt.